A. Holenstein: Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime

Cover
Titel
Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen


Herausgeber
Holenstein, André; Stuber, Martin; Gerber-Visser, Gerrendina
Reihe
Cardanaus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 7
Erschienen
Heidelberg 2007: Palatina Verlag
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
de Capitani François

Der Band vereinigt sechs Beiträge, die Einblick in das laufende Forschungsprojekt des Historischen Instituts der Universität Bern zur 1759 gegründeten Oekonomischen Gesellschaft Bern und ihrem Umfeld geben. Die Einleitung gibt einen Überblick über die Forschungsansätze. Dabei wird ein besonderes Gewicht darauf gelegt, wie ein modernes Wissenschaftsverständnis, verbunden mit einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben, die praktische Umsetzung neuer Erkenntnisse zur Rationalisierung und Steigerung der Produktion förderte. Das Spektrum reicht von der Technik über die Naturforschung bis hin zur Erziehung des Volkes zu Fleiss und innovativen Unternehmungen. Die Oekonomische Gesellschaft Berns ist dabei in ein breites und weltweites Netz der Wissensvermittlung eingebunden.

André Holenstein untersucht anhand der Schriften der Gesellschaft den Wandel der Begriffe «Arbeit» und «Fleiss», die als Schlüssel für die Steigerung der Erträge, des Wohlstandes und schliesslich des Glücks auf Erden verstanden werden: Arbeit als Segen und nicht mehr als Fluch. Die Oekonomische Gesellschaft erweist sich dabei als wichtige Stimme im europäischen Diskurs.

Regula Wyss und Gerrendina Gerber-Visser untersuchen die Mitarbeit der
Pfarrer in der Gesellschaft. Bei der Gründung waren die Erwartungen an die
Geistlichkeit gross. Einerseits sollte sie das praktische Wissen, das die Gesellschaft erarbeitete, unter das Landvolk bringen, andererseits sollte sie die städtischen Eliten über die Situation auf dem Lande, über neue Produkte und Initiativen auf dem Laufenden halten. Die Verbreitung neuen Wissens unter der Landbevölkerung war nur in Einzelfällen erfolgreich. In den ersten zehn Jahren des Bestehens der Gesellschaft zeigten viele Pfarrherren aber ein grosses Interesse an der Mitarbeit als Korrespondenten, die ihre Beobachtungen nach Bern schickten. Als besonders wertvoll erwies sich die Mitarbeit der Pfarrherren bei den topographischen Beschreibungen. Oft seit vielen Jahren in der beschriebenen Gegend lebend, kannten sie besser als andere Städter die Gewohnheiten und Bedürfnisse des Landvolks.

Martin Stuber und Luc Lienhard stellen die Verzeichnisse der Wild- und Kulturpflanzen, die im Rahmen der Arbeiten der Gesellschaft erstellt wurden, in den grösseren europäischen Zusammenhang. Bestand einerseits die Absicht, den Nutzen der Pflanzen genauer zu fassen und neue Arten zu propagieren, so wollte man andererseits auch einen Beitrag zur damals brennenden Frage einer allgemein verbindlichen Identifizierung, Klassifizierung und Benennung der Pflanzen leisten. Mit Linné, dem grossen schwedischen Vorbild, teilten sie die Meinung, dass nur die genaue Kenntnis der Tier- und Pflanzenwelt ein tragfähiges Fundament für ökonomische Verbesserungen bilden konnte.

Daniel Salzmann hat sich der Finanzen der Gesellschaft angenommen. Den
wichtigsten Einnahmeposten bildeten die jährlichen Subskriptionsbeiträge und einmalige Aufnahmegebühren. Diese waren relativ hoch, sicherten aber der Gesellschaft ihre Unabhängigkeit auch gegenüber der Obrigkeit. Stiftungen von Privatpersonen und der Regierung für Preise und Belohnungen ergänzten die Einnahmen. Rund drei Viertel der Einnahmen wurden als Preise, Belohnungen oder Aufmunterungen verteilt; die internen Kosten beliefen sich auf rund einen Viertel. Da die Aktivitäten der Gesellschaft nach 1770 abnahmen, steig das Vermögen kontinuierlich, obwohl man die Jahresbeiträge senkte und schliesslich fallen liess.

Das Verhältnis von Theorie und Praxis bei Albrecht von Haller wird von Hubert Steinke und Urs Boschung untersucht. In der Medizin wurde die Frage nach dem Nutzen der theoretischen Kenntnisse für die ärztliche Praxis und – im Gegenzug – die Abstützung der Theorie auf die Beobachtungen am Krankenbett im 18. Jahrhundert präziser gestellt. Albrecht von Haller, der grosse Theoretiker mit Praxiserfahrung, kann hier als Paradebeispiel dienen. Als praktischer Arzt führte er von 1731 bis 1736 ein Journal über seine Konsultationen; auf diese Erfahrungsberichte konnte er als Göttinger Professor für seine Studien zurückgreifen. In späteren Jahren, als Berner Magistrat, konnte Haller die Regierung in Seuchefragen beraten und aus der Theorie praktische Massnahmen vorschlagen. Die Wechselwirkungen von Theorie und Praxis haben der Medizin den Weg zur modernen Wissenschaft geebnet.

Im letzten Beitrag untersucht Franz Mauelshagen Johann Jakob Scheuchzers
Publikationen zur letzten grossen Pestepidemie Europas 1720, die Marseille und die Provence betraf. Scheuchzer war als Wissenschafter und als Stadtarzt mit der Frage nach der Verbreitung der Pest konfrontiert. Wie breitete sich die Pest aus? Kontagionisten und Antikontagionisten mit manchen Zwischenpositionen standen sich gegenüber. In mehreren Schriften stellte Scheuchzer die Lehrmeinungen einander gegenüber und empfahl Massnahmen gegen eine mögliche Ausbreitung der Pest in der Eidgenossenschaft. Wirtschaftliche und politische Interessen Frankreichs und der Eidgenossen standen nicht immer im Einklang mit der unvoreingenommenen wissenschaftlichen Untersuchung. Scheuchzer stützte sich auf ein ganzes Netz von Korrespondenten und veröffentlichte kommentierte Stellungnahmen der führenden Ärzte seiner Zeit. Das Beispiel zeigt das Funktionieren der «scientific community» in der Frühaufklärung an einem brisanten praxisbezogenen Fall.

Der vorliegende Band zeigt eindrücklich, wie neue Fragestellungen an ein
scheinbar bekanntes Quellenmaterial zu neuen – und für die Forschung richtungweisenden – Erkenntnissen führen.

Zitierweise:
François de Capitani: Rezension zu: Holenstein, André; Stuber, Martin; Gerber-Visser, Gerrendina (Hrsg.): Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen, Heidelberg, Palatina Verlag, 2007 (Cardanaus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte
7). 196 S. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 2, Bern 2009, S. 58f.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 2, Bern 2009, S. 58f.

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